Montag, 9. April 2012


Regionalliga West: Rot-Weiß Essen - 1.FC Köln II (3:4)

Fußball in der vierten Liga. Hier gibt es vor dem Anpfiff keine „Krüger Kaffe-T-Shirt-Kanonen“ und in der Halbzeit keine „REWE-Fanbox“. Hier wird der Spielstand noch per Hand an den Nagel gehangen. Genau hier, im tiefsten Ruhrgebiet, trafen sich zwei große Namen zu einem der letzten Spiele im altehrwürdigen Georg-Melches-Stadion.

Köln Hauptbahnhof. Schwarz-Gelb wohin man blickt. Auch auf Gleis 4 ist alles in die Farben des Deutschen Meisters getaucht. Eine Menge in feucht-fröhlicher Erwartung auf den Regionalexpress ins Ruhrgebiet. Wir gesellen uns dazu, als plötzlich das Unfassbare geschieht. Hinter uns tauchen zwei Herren fortgeschrittenen Alters auf. Sie tragen blaue Kaputzenpullis. Auf der Brust prangen vier große Zahlen: 1899. „Fans“ der Sinsheimer Mannschaft! Hier in Köln! Der Wahnsinn!

Der Zug fährt ein und wir setzen uns in ein Viererabteil mit einem stark schalbehangenen Dortmund-Anhänger. Jener verbringt die ersten 30 Minuten der Fahrt damit, sich über seinen Mobilfunkanbieter zu echauffieren, da er zwischen Köln-Mühlheim und Düsseldorf Hauptbahnhof offenbar kein Netz hat. Skandal! Er beruhigt sich erst wieder, als sein Bekannter dazu steigt. Neben unserer Diskussion über die Qualitäten von Bundesligaspielern mit der Rückennummer 2, sind wir einfach gezwungen ein Ohr dem netzlosen Schal-Borussen zu schenken: „Es hat einfach keinen Sinn mehr gemacht mit uns beiden. Wenn sie kein Alkohol trinkt und sich nicht für Fußball interessiert ist das doch auch aussichtslos oder?“ Auf jeden Fall – Prost!

Essen Hauptbahnhof. Uns fällt gerade noch rechtzeitig ein, dass wir ja gar nicht auf dem Weg zum BVB sind. Wir steigen aus. Mit uns noch zwei Anzugträger und eine junge Dame mit Rollkoffer. Fußballfans? Fehlanzeige! Gut, wir haben auch erst 12.58 Uhr. Schöner Bahnhof, sehr modern! Etwas planlos verlassen wir das Bahnhofsgebäude und hätten um ein Haar einen Personenschaden durch eine tieffliegende Taube zu beklagen gehabt. Ein älterer Mann, dem Anschein nach ein Essener Urgestein, hat Mitleid mit uns Auswärtigen und weist uns den Weg zum Stadion. „Rot-Weiß? Na da müssta de 166 drüben nehmen!“ Sehr gut! Erster Eindruck von Essen: Modern und freundlich.

Wir sitzen in der 166. Zwei Plätze weiter ein junger Mann im RWE-Trainingsanzug und einer Sporttasche der Ausführung frühjugendlicher Turnbeutel. Die Mütze im Gesicht und die Kopfhörer an der Ohrmuschel. Es könnte glatt der jüngere Bruder von Mesut Özil sein. Da wir keinen einzigen Spieler von Essen kennen, spaßen wir: „Das ist mit Sicherheit ein Spieler von Rot-Weiß! Machen wir ein Foto?“ Wir tun es natürlich nicht. Nach wenigen Minuten taucht der erste Flutlichtmast auf, kurz darauf erblicken wir das Stadion. Ein wohliges Gefühl. Keine hochmoderne Arena mit leuchtenden Lettern eines Sponsors. Nein, ein kleines, in die Jahre gekommenes Fußballstadion. Herrlich! Das macht Lust auf Fußball! Station Hafenstraße. Wir steigen aus.

Jetzt nur noch vorbei a
n einem mehr oder minder seriösen Gebrauchtwagenhändler und wir stehen vor dem Georg-Melches-Stadion, ehemals "Stadion an der Hafenstraße". Großartig! Doch was stört sind Baukräne im Hintergrund. Hier entsteht das neue Stadion der Essener. Größer und moderner wird es wohl werden. Nun ja! Man geht halt auch in Essen mit der Zeit. Bei einem Straßenverkäufer erwerben wir das aktuelle Stadionheft „Kurze Fuffzehn“ und gehen auf eine letzte Stärkung in den Schnellimbiss in Stadionnähe. Bei einem Pils und Currywurst Pommes erblicken wir im Heft den kleinen Özil aus dem Bus. Er ist tatsächlich Spieler bei Rot Weiß Essen und wird in Fachkreisen bereits als Nachwuchshoffnung bei RWE gehandelt. Na toll! Hätten wir doch bloß das Foto gemacht. Wir schieben uns gegenseitig die Schuld zu, wie Nowotny und Ramelow in besten Nationalmannschaftszeiten die Lederkugel beim Stande von 0:0. Ein Weg-Bier noch und dann geht’s auf ins Stadion.

Es ist ein eiskalter Januar-Nachmittag. Wir erklimmen die steinernen Stufen der Stehplatztribüne Ost. Als neutrale Fans positionieren wir uns etwas oberhalb. Der Stadionsprecher verliest durch eine kranzende Lautsprecheranlage die Aufstellung der beiden Mannschaften und wir schlagen fleißig in der „Kurzen Fuffzehn“ nach. Die erste Halbzeit ist mühselig anzusehen. Spieler und Fans scheinen gleichsam eingefroren zu sein. Die spannendste Szene spielte sich hinter dem Stadion ab. Der Baukran hebt einen Stahlträger für die Dachkonstruktion des neuen Stadions an. Faszinierendes Schauspiel! Dann doch noch das 0:1 für die Kölner. Man hätte es nicht für möglich gehalten. Der bis hierhin beste Mann auf dem Feld, RWE-Keeper Dennis Lamczyk, klärt eine Flanke mit der Faust an den Rücken seines Mitspielers und von dort springt er dem Kölner Angreifer direkt vor den Schlappen. Wir sind uns einig: Anders hätte hier auch kein Tor fallen können.

Wir überlegen ernsthaft uns einen Glühwein zur Stadionwurst zu holen, entscheiden uns dann aber doch für ein kühles Blondes in noch kühleren 15 Minuten Halbzeitpause. Brrrrrr. Einzig und allein im Rauch des Grills an der Wurstbude können wir es aushalten. Auf dem Weg zurück ins Stadion sind wir dem Architekten dankbar über jede Stufe, welche unsere Körper-temperatur wenigstens um ein bis zwei Grad ansteigen lässt. Zweite Halbzeit. Das Spiel nimmt Fahrt auf und die Gastgeber drücken. Ecke RWE, 1:1. Das Georg-Melches-Stadion erwacht aus der Eisstarre. Nun ist es ein Fußballspiel. Chance über Chance für Essen und ein Elfmeter in der 59. Minute. Brauer eiskalt zum 2:1. Eiskalt ist das Stichwort. So kalt ist es gar nicht mehr. Es kommt Bewegung auf die Osttribüne und die Stimmung wird immer besser. Spätestens nach dem 3:1 drei Minuten später befinden wir uns mitten in der jubelnden Menge vor dem Zaun. „Wir werden Essen niemals vergessen, wir sind die Fans von Rot-Weiß Essen!“ heißt es in Dauerschleife. Drei Tore in zwölf Minuten. RWE ist heiß und das Spiel in sicherer Hand.

Im Hintergrund greift der Baukran erneut nach einem Stahlträger. Die neue RWE-Heimspielstätte sieht mächtig aus. Besitzt aber nicht den Charme des alten Stadions, in dem der FC in diesem Moment einen Elfmeter zum 3:2-Anschluss verwandelt. „Wird’s etwa doch noch einmal spannend?“, würde jetzt wohl Fritz von Thurn und Taxis ins Mikrofon hauchen. Aber hier in Essen scheint schon aufgrund der frostigen Temperaturen nichts mehr anzubrennen. Die RWE-Akteure schieben die Kugel sicher über das kalte Geläuf. Bis zur 78. Minute. Dann schreibt der Fußball wieder eine jener Geschichten, die über Jahre hinweg in der Fan-Kneipe nacherzählt werden. Elfmeter Köln, Bisanovic läuft an und RWE-Keeper Dennis Lamczyk kann parieren. Die Atmosphäre ist trotz der Minus 10 Grad nun auf dem Siedepunkt. Essen schwimmt, Flanke kommt an den zweiten Pfosten, wo FC-Stürmer Lucas Musculus nur noch einschieben muss. 3:3. Jetzt wechselt FC-Coach Dirk Lottner in der 86. Minute Stefan Thelen ein. RWE spielt auf Sieg und eröffnet den Kölnern die Konterchance, welche der gerade eingewechselte Thelen mit einem kunstvollen Heber in die Maschen vollendet. Der Torschütze sprintet gleich durch zu Lottner und in etwa derselben Geschwindigkeit schießt ein gefüllter Stadionbecher an uns vorbei. 3:4 in der 89. Was ist denn hier los? Der absolute Wahnsinn! Zwei Minuten Nachspielzeit. Ecke RWE. Der beste Mann des Tages (neben dem Baukran-Fahrer), Dennis Lamczyk, stürmt in den Strafraum und Köpf das Ding dreieinhalb Zentimeter über die Latte. 5000 Mann schlagen die Hände vors Gesicht. Es ist mucksmäuschenstill im Stadion. Dann der Abpfiff. Sowas hatte hier auch noch keiner gesehen. Was eine Schlussphase! Rot-Weiß Essen unterliegt den Kölner Amateuren mit 3:4 nach einer 3:1-Führung. Irgendwie will noch keiner so recht gehen. Selbst der Baukran steht still.

Schließlich reihen wir uns doch ein in die Menge die gen Bushaltestelle strömt. Betretenes Schweigen. Oder ist es doch ein Staunen? Ein Staunen über ein Fußballspiel, welches Spuren in der Fußballerseele eines jeden RWE-Fans zurücklassen dürfte. Am Straßenrand finden wir eine achtlos weggeworfene Eintrittskarte. Eine Schande! So etwas behält man doch! Das alt-ehrwürdige Georg-Melches-Stadion ziert das Beweisstück für den heutigen Nachmitttag. Darunter: „Abschied von Ruinen“. Wir sagen: Lebe wohl!

von Jonas Docter

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